Anmerkungen zu einem föderalen Europa von Robert Krieg

Anmerkungen zu einem föderalen Europa von Robert Krieg

Covid 19 hat die Umwelt- und die Europa-Krise an den Rand gedrängt. Dabei muss man alle drei Krisen zusammendenken. Ihnen allen liegt eine ökonomische Entwicklung zugrunde, die nicht die Daseinsvorsorge der Menschen im Blickpunkt hat, sondern ein ungehemmtes Gewinnstreben, das dem menschlichen Leben auf dem Globus  zum Verhängnis wird. Der ungezügelte Raubbau an der Natur vernichtet natürliche Lebensräume wilder Tiere, die immer näher an den Menschen heranrücken und als Wirtsträger neue und unbekannte Viren übertragen. Die radikalen Einsparungen in den öffentlichen Gesundheitssystemen europäischer Länder haben in manchen Regionen Europas die Gesundheitsversorgung zusammenbrechen lassen. Die nächtlichen Bilder der Armee-Laster, die die Corona-Toten in Oberitalien wegschaffen, haben sich tief in das kollektive europäische Gedächtnis eingebrannt. Eine gesundheitliche Vorsorge kann nicht nach merkantilistischen Vorgaben betrieben werden, eine Berufsfeuerwehr-Station wird auch nicht wegrationalisiert, nur weil es ein Jahr lang keinen schwerwiegenden Einsatz gab. Die Menschen in Europa und auf der ganzen Welt haben gelernt, dass die Verlagerung und Zentralisierung der Herstellung lebenswichtiger Produkte wie zum Beispiel Medikamente und die just-in-time-Lieferketten schnell lebensbedrohlich werden können. Das Diktat des freien Marktes, das ökologische Folgekosten als Kollateralschäden abtut und auf den gemeinen Steuerzahler abwälzt, gefährdet auch Arbeitsplätze: Die Selbstüberschätzung mächtiger Konzernlenker rüttelt am Bestand zwei der wichtigsten deutschen Unternehmen. Seit der Übernahme der US-Firma Monsanto steht der einstmals „gesunde“ Bayer-Konzern an der Wand, und die nicht abreißende Klagewelle gegen VW lässt gigantische Strafzahlungen auf den Weltmarktführer im Autobau zukommen.  Das allgegenwärtige Bild von der Überlegenheit deutscher Produkte bekommt plötzlich tiefe Risse.

Die Pandemie hat das Leben in Europa entschleunigt. Es ist mehr Zeit und Raum entstanden, um die Fehlentwicklungen im ökonomischen und politischen Raum zu überdenken und der Vormachtstellung rein ökonomischer, an Rendite orientierter Interessen Grenzen zu setzen. Diese Chance sollten wir nutzen, denn die Gelegenheit wird nicht so schnell wiederkommen. Da kommt der Aufruf von Michel Dévoluy „Wagen wir endlich die Vereinigten Staaten von Europa!“ zur rechten Zeit. (1)

Die EU ist aus der Idee entstanden, dass der freie Handel untereinander das entscheidende Fundament eines friedlichen Zusammenlebens ist. Unter dieser richtigen,  aber verkürzten Sicht auf das Zusammenleben in Europa hat die gemeinsame Entwicklung zu einer politischen europäischen Union gelitten.  Die Forderung eines föderalen Europas steht im Raum und wird zu Recht von Michel Devoluy erhoben. Die Föderalisierung der europäischen Staaten ist eine konsequent zu Ende gedachte Entwicklung, die spätestens mit der Einführung des Euro eingesetzt hat. Denn eine gemeinsame Währung kann längerfristig nicht ohne eine gemeinsame Fiskalpolitik funktionieren. Das haben die Verwerfungen im europäischen Raum besonders nach der Finanzkrise 2009 deutlich gemacht. Ein gemeinsamer Haushalt, der u. a. aus europäisch erhobenen Steuern (Finanztransaktionssteuer, Umsatzsteuer, Besteuerung global operierender IT-Unternehmen wie Amazon, Apple, Facebook, Flugbenzinsteuer, usw., usw.) finanziert und durch das europäische Parlament genehmigt wird, setzt eine gemeinsame Wirtschaftspolitik voraus. Sie würde das bisherige Regelwerk der Wirtschafts- und Währungsunion ersetzen, das die Entscheidungsfreiheit der einzelnen Mitgliedsstaaten hinsichtlich ihrer Finanz- und Konjunkturpolitik drastisch einschränkt - mit fatalen Ergebnissen für Griechenland, Italien und Spanien. Die Sparverordnungen waren immer mit hohen sozialen Kosten verbunden. Die Pulverisierung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen ist der Brandbeschleuniger beim Zulauf zu rechtradikalen und rechtpopulistischen Bewegungen, die Europa gefährden. Eine gemeinsame Wirtschaftspolitik, die die Eckdaten der nationalen Haushalte festlegt, würde die Konkurrenz untereinander beenden und  wäre eine der Grundfesten eines föderalen Staates Europa. Eine gemeinsame Steuerpolitik würde für mehr Steuergerechtigkeit sorgen und dem Abbau von Sozialdumping eine Chance einräumen.

Das bisher gültige Vertragswerk der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion hat das neoliberale Wirtschaftsmodell, das seit fünfzig Jahren weltweit auf dem Vormarsch ist und spätestens mit dem Ende der Konkurrenz der Systeme seit dem Fall der Mauer jede Beißhemmung verloren hat, nicht gezähmt, sondern ihm ganz im Gegenteil Tür und Tor geöffnet. Die auf die Römischen Verträge zurückgehende Forderung nach freiem und unverfälschtem Wettbewerb hat der radikalen Ablehnung von jeglicher Regulierung des Marktes Vorschub geleistet. „Das Resultat sehen wir: Privatisierung von Staatsunternehmen, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Explosion der Privatversicherungen, Angriffe auf den Sozialstaat. Indem die Währungsunion sich für den freien und unverfälschten wirtschaftlichen Wettbewerb einsetzte, hat sie paradoxerweise zu einem sozialen und fiskalischen Wettbewerb geführt.“  (2)

Das Paradox erklärt sich aus den Rendite-Erwartungen global agierender Unternehmen, die mit ihren Lobby-Büros in Brüssel bisher erfolgreich eine Einhegung des Markt-Fundamentalismus verhindert haben. Ihr Druck auf die nationalen Regierungen befördert deren Konkurrenzdruck untereinander und zwingt sie zu einem Wettbewerb um die niedrigsten Steuersätze und Sozialstandards. Die Suche nach dem eigenen Vorteil verhindert bisher eine zumindest für die Euro-Zone  verbindliche Sozial- und Steuerpolitik. Umso dringlicher wird eine europäische Regierung, die alle Bürger und Staaten repräsentiert.

Die vorhandenen EU-Institutionen setzen bisher fast ausnahmslos die Interessen der einzelnen EU-Staaten durch, die Interessen der EU-Bürger werden dabei nur unzureichend berücksichtigt. Das liegt auch an der mangelhaften Repräsentanz der EU-Bürger, dem mehrere Konstruktionsfehler zugrunde liegen. Das  ist  der Hintergrund des Bundesverfassungsgerichts-Urteils, das von vielen Europa-Befürwortern als Angriff auf Europa (miss-)verstanden wird. Die EU bezieht ihre demokratische Legitimation allein aus dem demokratischen Mandat ihrer Mitgliedsstaaten, nicht der EU-Bürger. Nur die Mitgliedsstaaten sind bisher demokratisch legitimiert im Unterschied zum EU-Parlament, das zwar frei, geheim und direkt, aber nicht gleich gewählt wird. Das Prinzip „one man, one vote“, das in Deutschland Verfassungsrang hat, gilt nicht bei der Wahl des EU-Parlaments. Dadurch wiegt die Stimme eines Wahlbürgers aus Deutschland oder Frankreich erheblich weniger als zum Beispiel die aus Malta oder Estland. Dieses Wahlverfahren nach dem komplizierten Prinzip der degressiven Proportionalität sichert den kleinen Mitgliedsstaaten eine Vertretung im EU-Parlament zu, die sie sonst so nicht hätten. Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren europarechtlichen Grundsatzentscheidungen festgestellt, dass die vertraglichen Vereinbarungen der Mitgliedsstaaten die einzig demokratisch legitimierte Grundlage für alle von der EU getroffenen Entscheidungen sind. Nach diesen Verträgen hat die EZB mit dem Ankauf von Staatsanleihen seine Kompetenzen überschritten. Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Maßnahmen der EZB unter Mario Draghi die EU als Staatenverbund gerettet haben, aber der Historiker Heinrich August Winkler sagt zu Recht „Die Frage, ob wir um der europäischen Integration willen ein Weniger an Demokratie in  Kauf nehmen dürfen, ist aus meiner Sicht eindeutig zu verneinen. ‚Mehr Europa’ um den Preis von weniger Demokratie, das darf nicht sein.“ (3)

Ein weiterer Konstruktionsfehler ist der übermächtige Einfluss der Staats- und Ministerpräsidenten, dem die EU als transnationales Bündnis keine ebenbürtigen Institutionen gegenüberstellen kann. Die Nationalstaaten dominieren die europäische Politik durch den europäischen Rat, dessen Mitglieder, die jeweiligen Staats- und Ministerpräsidenten, die Linien der europäischen Politik bestimmen. Ursprünglich waren die von den Mitgliedsstaaten entsandten Ministerräte der Transmissionsriemen zur  EU-Kommission und dem EU-Parlament. Doch ohne Empfehlung aus dem Europäischen Rat läuft schon lange nichts mehr im Ministerrat. Sachliche, im mühsamen Konsensprozess gewonnene Entscheidungen werden leider viel zu häufig zugunsten taktischer Erwägungen geopfert.

Der in den Gründungsakten der Union nicht vorgesehene Europäische Rat hat im Laufe der Jahre immer mehr an Einfluss gewonnen und wird seit 2007 als entscheidendes Organ der EU anerkannt. Nach meiner Ansicht ist das eine Rolle rückwärts - weg von der ursprünglichen Idee, die von EU-Parlament und EU-Kommission entwickelten Gesetze und Vorhaben mit den jeweiligen Fachministern der Länder abzustimmen und gemeinsam auf den Weg zu bringen. Durch die Vormachtstellung der Staats- und Ministerpräsidenten liegen die Prioritäten der EU-Politik in der Durchsetzung nationalstaatlicher Interessen. Insofern kann man das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch als indirekte Aufforderung  verstehen, die Organe der EU weiter zu demokratisieren. Dazu bedarf es  grundlegender Änderungen der europäischen Verfasstheit. Es besteht „die Notwendigkeit einer föderalen Antwort ... die Aufteilung der Souveränität muss geändert werden... Eine föderale Logik muss die zwischenstaatliche Herangehensweise ablösen. Wir brauchen eine Verfassung.“ (4)

Der föderale Gedanke ist konstitutiv, denn nur eine föderale Union der europäischen Staaten garantiert die Gleichberechtigung der einzelnen Staaten, egal wie groß oder klein sie sind, egal wie viele Einwohner/innen sie haben. Vielleicht kann man sich die Bundesrepublik Deutschland zumindest teilweise zum Vorbild nehmen. Der deutsche Bundesrat wahrt die Hoheitsrechte der deutschen Bundesländer gegenüber dem Zentralstaat. Ein Europäischer Bundesrat würde die Rechte der einzelnen Nationen wahrnehmen. Um dem Europäischen Parlament eine vollwertige demokratische Legitimität zu verschaffen, muss auch hier das Prinzip „one man one vote“ geltend gemacht werden. Voraussetzung dazu wäre, dass man die Aufstellung der Abgeordneten nicht mehr von nationalen Grenzen abhängig macht. Die Wahl von Abgeordneten, die nicht mehr von den Nationen, sondern von den Regionen aufgestellt werden, würde die europäische Demokratie revolutionieren und die berechtigten Bedenken der kleinen europäischen Länder, von den Großen untergebuttert zu werden, zerstreuen.
Grenzüberschreitende Regionen mit langer eigener Geschichte und Kultur überwinden die politischen und mentalen Grenzen der europäischen Nationalstaaten, die auf eine relativ kurze Geschichte zurückblicken und ideengeschichtlich auf der französischen Revolution fußen. Die meisten von ihnen sind aus größeren territorialen Einheiten oder Imperien entstanden. „Die Regionen, die bekanntlich in den meisten Fällen nicht an den ohnehin schon verschwundenen nationalen Grenzen haltmachen, wählen ihre Abgeordneten ins Parlament. Das Parlament wählt die Kommissare und den Kommissionspräsidenten. Die Kommission, die einzige wirklich europäische Institution, entwickelt die Gesetze und Richtlinien, die das Parlament dann abstimmt.  So können die großen Rahmenbedingungen definiert werden, die Finanz-, Wirtschafts-, Steuerpolitik, das Recht- und Sozialsystem.“ (5) Dazu kämen eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik.

Es wird bestimmt drei Generationen benötigen, bis die heute schon unsichtbaren nationalen Grenzen aus den Hirnen und Herzen der Menschen verschwunden sein werden und sie sich in erster Linie als europäische Bürger verstehen. Aber die Nationalstaaten sind nicht gottgegeben und unabänderlich. Ein erster Schritt in Richtung Vereinigte Staaten von Europa wäre die Europawahl nach Regionen ohne Rücksicht auf nationale Grenzen  mit grenzübergreifenden europäischen Kandidaten und Parteien.  Die Bedeutung der europäischen Regionen ist auch innerhalb der bestehenden EU-Strukturen anerkannt. Einrichtungen wie „Versammlung der Regionen Europas“, „Rat der Gemeinden und Regionen Europas“ und „Kongress der Gemeinden und Regionen“ setzten wichtige Impulse beim Zusammenwachsen der Nationalstaaten, das leider immer wieder durch die nationalistische Politik einzelner Mitgliedsstaaten unterminiert wird. Das führt dann dazu, dass grenzüberschreitende Städtebündnisse bei der Umsetzung ihrer progressiven Flüchtlingspolitik durch den Europäischen Rat gestoppt werden.

Europa ist geisteswissenschaftlich, naturwissenschaftlich, kulturell, sozialpolitisch und ökonomisch gut aufgestellt, um den gegenwärtigen Herausforderungen der drei anfangs benannten großen Krisen zu begegnen. In Anknüpfung an die positiven Traditionen der europäischen Aufklärung sollten wir Lehren aus den Erfahrungen der letzten Monate ziehen und entschieden an einer demokratischen Neuordnung unserer Wirtschaftspolitik arbeiten, die Umwelt- und Sozialstandards auf europäischer und globaler Ebene durchsetzt.  Damit schaffen wir die Voraussetzung, um die Menschen von einem föderalen Europa zu überzeugen. Der historische Moment ist da, Denkblockaden zu überspringen und Neues zu wagen!

Robert Krieg




(1)    Michel Dévoluy: Wagen wir endlich die Vereinigten Staaten von Europa!
Rhein-Mosel-Verlag 2020
(2)    Michel Dévoluy a.a.O. S. 52
(3)    Interview mit Heinrich August Winkler, Frankfurter Rundschau, 26.05.20, S. 22
(4)    Michel Dévoluy a.a.O. S. 63
(5)    Robert Menasse: Der europäische Landbote, Herder 2015, S.87 ff.

Kategorie: Was soll werden? - Manifest - Diskussion
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